Manifest
- Es wird keine Bilder mehr geben und keine Plastik.
- Die Kunst erschöpfte sich in der Aktualisierung alter Träger wie Bilder, Plastiken und 0bjekte. An die Stelle dieser Objekte werden Projekte treten.
- Die Grenzen werden aufgehoben: Die Plastik überwindet ihre Objekthaftigkeit, die Malerei sprengt den Rahmen.
- Daraus entsteht das Antiobjekt.
- Antiobjekte sind die kontinuierliche Weiterentwicklung und räumliche Fortsetzung unserer Bilder und Plastiken auf neuen Ebenen. Sie sind kein dekorativer Fleck an der Wand, sondern vielmehr Ausdruck einer Vitalität, die den Rahmen jeder isolierten Kunstform sprengt, um neue Kulturformen vorzubereiten.
- Nicht die äußere Gestalt unserer Antiobjekte ist verbindlich für die Gestaltung der Umwelt, sondern ihr Entstehungsvorgang.
- Jeder Verzicht auf die Bildung neuer Kulturformen bedeutet Stagnation und macht Kunst überflüssig.
- Sobald die künstlerische Gestaltung auf die Wirklichkeit übergreift, erübrigt sich jegliche Abbildung und jedes Gleichnis der Wirklichkeit. Heute ist Abbild ohnehin nur noch ein müder Reflex des Künstlers auf die mechanische Bilderinflation durch die Massenmedien. Kunst war immer transformierte Wirklichkeit. Durch die neueren Strömungen wird die Wirklichkeit selbst ins Bild transportiert und damit das Bild ad absurdum geführt. Der Anspruch auf Gestaltung wird überhaupt aufgegeben.
- Für uns wird nun die Gestaltung der Umwelt selbst zum Inhalt, genauso wie die Gestaltung des Raumes schon Inhalt ist in unseren Antiobjekten.
- Bei I n t e n s i v i e r u n g der bestehenden isolierten Kunstformen verliert die Kunst jeden Anspruch auf einen wesentlichen Platz innerhalb des Lebens und verkümmert.
- Die Künstler, die noch an überholten Kunstformen hängen, werden an den Busen der Gesellschaft genommen und totgestreichelt.
- Wir fordern die tatsächliche Extensivierung, in der die einzelnen Kunstgattungen aus sich heraustreten, um alle Ausdrucksmöglichkeiten zu einer integralen Kunst zu verflechten.
München, den 24. Oktober 1965
BACHMAYER • FISCHER • HELLER • KÖHLER • NAUJOKS • PREM • RIEGER • STURM • ZIMMER
Antiobjekt
1965
120/145 x 265 x 9 cm
"Es wird keine Bilder mehr geben und keine Plastik." Als Florian Köhler (...) diesen „Punkt 1" des Manifests unterzeichnet, gibt es sein großes Relief bereits, und das Boot ist voll. Die Ausmaße des Kunstwerks (145 x 265 x 9 cm) sind gemessen an den Dimensionen der Arbeiten, die in der hohen Zeit der Gruppe WIR entstanden waren, groß, sehr groß. Programmatisch heißt das „Volle Fahrt voraus" – und das Ziel ist nicht mehr das Bild, geschweige denn das Abbild. In Köhlers Relief steht der Zeiger zwischen„ 1/4 und Voll", genau da, wo sonst fünf vor zwölf wäre. (...)
Rüdiger Hurrle
Aus: Florian Köhler – Die ferne Insel, Sammlung Hurrle, Durbach 2013
Bildmontage
1965 117 x 155 x 15 cm
(...) Aus Hartfaser, Karton und zahlreichen anderen gefundenen Materialien entstanden die ersten "Antiobjekte" aus kurvigen Pfeilen, Schleifen und Bändern, die den geschichteten Raum darstellten und deren Bahnen durch farbige Bemalung verjüngt, verzerrt oder gesteigert wurden. Die Verwendung ungemischter Farben war die von allen akzeptierte reale Ordnungsfunktion. Zugleich sollten die Farben die konkreten Formbahnen verlassen und auf anderen Flächen als illusionäre Bahnen weiterlaufen. Durch den so entstehenden Austausch zwischen konkreter und gemalter Form verloren die Formelemente ihre Identität. (...)
Axel Feuß – Künstlerische Entwicklung
Aus: Helmut Rieger, Arbeiten von 1959 bis 1995, Museum Ostdeutsche Galerie, Regensburg 1996
Antiobjekt
1966 70 x 100 x 55 cm
Wir erkannten, daß die Erweiterung aus der Zweidimensionalität des Bildes in die Dreidimensionalität des Raumes eine zwingende Notwendigkeit war, weil die polychrome, vielschichtige Struktur in der Malerei nur mühsam darzustellen war. Der antithetische Aspekt von konkretem und irrational-imaginärem Raum zwang uns, den Bildrahmen zu sprengen.
Helmut Rieger 1988
Ohne Titel (Geflechtartige Collage)
1967 110 x 130 cm
(...) Erst als die Künstler die Collage 1967 für sich wiederentdeckten, schien es für eine Weile möglich, in dieser Technik die bisherige Entwicklung zu überarbeiten und darin einen neuen Gruppenausdruck zu finden. Hier sind nun wieder „Realien" in Form von Zeitungs- und Plakatausschnitten eingefügt, überwiegend technische Teile, aber auch Fragmente von Frauenkörpern und aus der Warenwelt. In einigen Collagen stürzen Technikfragmente mit solcher Wucht im labyrinthischen Bildraum zusammen, daß sich darin das ganze Desaster des automobilen Traums und des technischen Fortschritts der Industriegesellschaft auszudrücken scheint. (...)
Pamela Axmann – Ideenfolgen bei Geflecht
Aus: Die Gruppe Geflecht ANTIOBJEKT 1965–1968, Verlag Silke Schreiber 1991
Ohne Titel (Geflechtartige Collage)
1967 125 x 110 cm
(...) Bei Köhlers Arbeiten aus der Zeit 1965–1968 werden mehr und mehr Plakatschnipsel mit Abbildungsdetails aus der Fahrzeugtechnik und von Utensilien der Körperpflege zwischen schwungvolle Liniensysteme gefügt. So nutzt er – ob im Relief oder auf Leinwand und Papier – vorgefertigt Gedrucktes und Dekorationsmaterialien wie Silberfolie, die eigentlich den Alltag nobilitieren sollten, für brodelnd dichte, kaleidoskopische Raumvisionen ohne Oben und Unten. (...)
Claus Mewes – Florian Köhlers bundesrepublikanische Wirklichkeit
Aus: Florian Köhler, Kunsthalle Schweinfurt 2017
Solo-unmögliche Beweisaufnahme
1968 63 x 65 cm
Unser Ziel war es, ein alltägliches Motiv zu verwenden, an dem wir Schichtung und Geflecht durchdeklinieren konnten. Als Einstieg diente uns das Thema Auto, innerhalb dessen wir auch viele Motive collagierten. So habe ich beispielsweise die Zeitschrift "Das Motorrad" abonniert, auch wenn ich – wie ich zugebe – nicht besonders viel von Motorrädern verstand. Mich faszinierten vielmehr die Detailaufnahmen vom Innenleben dieser Fahrzeuge, was ich dann versuchte, über Collage und Malerei bildnerisch umzusetzen.
Heino Naujoks, 2007
Aus: Gruppe GEFLECHT, Arbeiten von 1965–1968, Katalog zur Ausstellung in der Rathausgalerie der Landeshauptstadt München, 2007
... Was für ein Glück ist es, mit Gleichgesinnten zusammenzuarbeiten. Mit ihnen Entdeckungen zu machen, Entwicklungen voranzutreiben. Man ist direkter an den Problemen, so fühlt man. Alles, was immer man tut, ist sinnvoll. Entspringt es doch den gemeinsamen Ideen, auf der Suche nach einem Stil. Das ist die Basis, auf der man sich bewegen kann, arbeiten kann. Die Bilder, Funde, Resultate, Entdeckungen werden dann in das Säurebad der Reflexionen gehängt.
Zwei — vier — acht — sechs Individuen kritisieren, plädieren — es entsteht eine spannende auch von Emotionen geprägte Situation. Das ist fruchtbar und kann oft auch furchtbar sein. Glück und Frust liegen nah beieinander, sind hier Geschwister. Gruppe ist nicht nur der schützende Hort. Bilder, die in dieser Zeit entstanden, waren oder sind immer von einer Dialogbereitschaft geprägt. Das ist a priori noch kein Zeichen von Qualitätsschwund. Das ist auch kein Herunterschrauben auf ein All- Verständlichkeitsniveau.
Wenn ich zum Beispiel ein Gedicht lese, bleibt mir oft der Inhalt verborgen, aber ich spüre, dass mir das Gedicht etwas sagen will — kein l‘art pour l‘art. Aber wer um alles in der Welt und Literatur würde die Lyrik und damit die Gedichte abschaffen, nur weil sie nicht effizient sind. Aber ständig muss ich mir anhören, dass die Zeiten der Malerei und der Bilder vorbei sind. Das berührt mich nicht so stark wie es sollte. Schrieben wir doch im Geflecht-Manifest 1965 unter: Es wird keine Bilder mehr geben und keine Plastik. Das ist stark formuliert, denn die Sprache des Manifestes soll erschrecken — abschrecken. Das ist die Waffe der Gruppe: Angriff und Verteidigung zugleich.
Dem Druck von außen entspricht der Druck von innen. Dieses sensible und doch auch gefährliche Gleichgewicht verhindert den großen Krach, der aber, und das zeigt die Geschichte aller Gruppen, so sicher kommt wie das Amen in der Kirche. Auf die Frage warum sich die Gruppen aufgelöst haben? Meine Antwort: Die Druckverhältnisse haben nicht mehr gestimmt, sind aus dem Gleichgewicht geraten. Das ist vielleicht auch eine Erklärung dafür, warum Gruppen nicht zu jeder Zeit entstehen können. Wichtigster Zeuge für ihre Existenz sind ihre Bilder und Plastiken. Sie sind Seismograph und Zeitraffer zugleich — unbestechlich und authentisch. Resümee: Die Zeit von WIR, SPUR-WIR und GEFLECHT war so wichtig für mich. Sie zu missen, würde Verlust bedeuten. Wir waren unsere eigene Schule, unsere eigene Akademie — unser eigenes Bauhaus.
Dem Frust zum Trotz — die Freude über eine wahnsinnig intensive Zeit. Helmut Rieger 1996
Aus: Helmut Rieger, Arbeiten aus der Zeit von 1960–1996, Galerie Alvensleben, Über den barocken Raum München, 1996